Trauerrituale im Wandel Letzte Orte

Wenn ein Mensch im Kiez stirbt, reißt das eine Lücke. Wie wird um ihn getrauert?

08. April 2024
Außenaufnahme: Graue Hausfassade mit zwei Fenstern, bei denen die Rollos komplett (links) bzw. halb herunterlassen sind (rechts)

Wenn ein Mensch im Kiez stirbt, reißt das eine Lücke. Wie wird um ihn getrauert? Autorin Nadine Wojcik hat sich auf die Suche nach zeitgemäßen Trauerritualen gemacht – und dabei Gemüsebeete auf Friedhöfen, Geisterräder am Straßenrand und tröstende Gesten der Menschlichkeit gefunden.

Zwischen Samen und Trauer

Donnerstag ist Gartentag im ElisaBeet. Stadtgärtnerin Meike Stark läuft am Rand eines Ackers entlang, in den sie in wenigen Wochen Samen drücken wird und Setzlinge einpflanzt. Donnerstags finden aber auch die Beerdigungen auf dem Friedhof St. Elisabeth II an der Wollankstraße im Wedding statt. Während sie Samen sät, Setzlinge vereinzelt und die Felder bestellt, schreiten dann Trauerzüge von der Kapelle zum Grab. Denn der Nachbarschaftsgarten befindet sich auf dem Friedhofsgelände und heißt daher treffend ElisaBeet.

„Das ist immer ein andächtiger Moment“, sagt die 33-Jährige. Einer, an dem Leben und Sterben zusammentreffen. Das ElisaBeet ist ein Gemeinschaftsgarten, der seit drei Jahren am nordöstlichen Rand des Friedhofs Elisabeth II im Soldiner Kiez bewirtschaftet wird. Ein Fünftel der 2,5 Hektar großen Friedhofsfläche wird genutzt, um Gemüse für eine Solidarische Landwirtschaft anzubauen. Das bedeutet: Die Weddinger*innen können ein monatliches Abo abschließen und dafür jede Woche eine Gemüsekiste abholen. Außerdem gibt es Platz für Hängematten, Yogakurse, eine offene Küche und Wildblumenwiesen. „Im Sommer ist das hier ein Paradies“, sagt Meike Stark. Die studierte Agrarwissenschaftlerin ist eine von acht angestellten Stadtgärtnerinnen und Projektmanagern beim Verein Himmelbeet. „Viele Weddinger nutzen diesen Raum einfach als Erholungsraum und gehen spazieren. Oder sie sitzen neben Menschen, die herkommen, um zu trauern. Ich finde diese Kombination sehr bereichernd.“

Wohin tragen wir unseren Schmerz?

In dieser Geschichte soll es darum gehen, wie und wo Menschen in Berlin heute trauern. Wohin tragen wir unseren Schmerz? Wo wird er sichtbar? Wo darf er sein? Traditionell sind dafür Friedhöfe vorgesehen. In keiner anderen deutschen Stadt gibt es so viele davon. Weil sich die Stadt aus 94 Einzelgemeinden heraus entwickelte, gibt es keine Zentralfriedhöfe wie in anderen europäischen Metropolen, sondern 220 verstreut liegende Kiezfriedhöfe. Würde man sie alle zusammenlegen, wäre die Fläche größer als Müggelsee und Wannsee zusammen. Durch das schnelle Wachstum der Stadt Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nahm auch die Anzahl der Verstorbenen zu – ein Friedhofsboom war die Folge. Die hohen Opferzahlen der beiden Weltkriege führten später zu Notfriedhöfen in Parkanlagen oder Privatgärten. Nach Kriegsende konnten die Toten umgebettet und die Notfriedhöfe aufgelöst werden.

Die Entwicklung der Friedhofskultur in Berlin

Das hat sich seit den 1980er-Jahren dramatisch geändert: Es zogen junge Menschen nach Berlin, die Lebenserwartung stieg – und die Friedhöfe wurden weniger gebraucht. Auch braucht die moderne Bestattungskultur immer weniger Platz: Feuerbestattung, Friedwälder, Urnengräber und hier insbesondere Gemeinschaftsanlagen werden immer stärker nachgefragt. Das gilt allerdings nicht für alle Kulturen. Für muslimische Bestattungen beispielsweise steigt der Flächenbedarf: Die Zahl der Muslim*innen wächst, die in Berlin beerdigt werden möchten. Bis heute hat die Religionsgruppe nur einen eigenen Friedhof in Berlin, an der Moschee am Columbiadamm. Auf einigen städtischen und evangelischen Friedhöfen wurden daher bereits islamische Grabfelder ausgewiesen, auch auf dem Elisabeth-Friedhof. Der Senat hat versprochen, weitere Kapazitäten auf freigewordenen Friedhofsflächen zur Verfügung zu stellen. Traditionell werden Muslim*innen in Tücher gehüllt in Richtung Mekka beigesetzt.

Wie wir mit unseren Toten umgehen, verrät viel darüber, wie wir leben.

Meike Stark führt durch den Garten, in dem sich bis zu 60 Nachbar*innen um die Beete kümmern. Früher war das der Kompost des Friedhofs – ein Glücksfall, denn wo einst Menschen beerdigt wurden, darf nicht gegärtnert werden. „Vereinzelt stehen hier Gräber, die noch eine bestimmte Standzeit haben“, sagt Meike Stark. „Da haben wir eher Aufenthaltsflächen und Hochbeete errichtet.“ Seit 2020 bringt der gemeinnützige Verein Himmelbeet ein bisschen Leben auf das Terrain der Totenruhe.

„Für mich hat sich die Beziehung zu Friedhöfen verändert. Als ich ein Kind war, sind wir immer nur auf den Friedhof gegangen, um uns um die Gräber meiner Oma und Uroma zu kümmern. Jetzt komme ich hierher, um gemeinsam mit Leuten zu gärtnern.“

Meike Stark

Vom Zentrum an den Rand

Wie wir mit unseren Toten umgehen, verrät viel darüber, wie wir leben. Im Mittelalter waren Friedhöfe noch einfache Wiesen rund um die Kirche, auf denen auch die Wäsche aufgehängt, Waren getauscht oder das Vieh zum Weiden getrieben wurde. Erst um 1800 herum begann man, hauptsächlich aus hygienischen Gründen, die Toten aus dem Zentrum der Siedlung außerhalb des Stadtkerns zu begraben. Auf alten Berliner Stadtkarten ist gut zu erkennen, wie sich die Friedhöfe ab dann wie ein Ring um den damaligen Stadtkern legten.

Dass die Friedhöfe auch ein Ort der repräsentativen Trauer wurden, begann zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Wer berühmt war, sollte standesgemäß gebettet werden. Ehrengräber wie die von Bertolt Brecht, Theodor Fontane, Willy Brandt, den Gebrüdern Grimm oder Robert Koch gelten heute als kulturhistorischer Schatz. Und auch die Kriegsgräber sind mehr als nur Orte der letzten Ruhe, sondern erinnern an das, was Krieg und Gewaltherrschaft in Deutschland hinterlassen haben: Millionen von Toten. Viele von ihnen sind ohne ihre Familie gestorben und werden für immer namenlos bleiben.

Können wir auch um Menschen trauern, die wir nicht kennen?

Aber können wir auch um Menschen trauern, die wir nicht kennen? Wie sehr berührt uns überhaupt das Sterben der anderen? Um dieser Frage nachzugehen, verlassen wir den Friedhof im Wedding und nehmen an einer ganz besonderen Trauerfeier teil. An einem Sonntagabend in Reinickendorf steht der Amtsarzt Patrick Larscheid in der Apostel-Paulus-Kirche in der Wachsmuthstraße 25 und liest eine Liste mit 224 Namen vor. Auf einem Tisch neben dem Rednerpult brennen 224 Teelichter – jeder Name und jede Kerze gehören zu einem*einer einsam verstorbenen Reinickendorfer*in. Danach richtet sich der Arzt an die etwa 50 Menschen auf den Stühlen: „Muss man jedes Jahr an so einem kalten Sonntagnachmittag hierherkommen, um Menschen zu betrauern, die man gar nicht kennt?“ Die Antwort darauf ist schwieriger, als es scheint.

Die unsichtbaren Toten

Jährlich sterben rund 40.000 Menschen in Berlin. Etwa sechs Prozent davon werden ordnungsbehördlich bestattet, so nennt sich das auf Amtsdeutsch, wenn keine Angehörigen vom Gesundheitsamt ausfindig gemacht werden konnten, um die Verstorbenen beizusetzen. 2.200 Menschen also, die in Berlin in der eigenen Wohnung, im Seniorenheim, im Krankenhaus oder – bei obdachlosen Menschen – auf der Straße sterben und bei denen keine Familienmitglieder ausfindig gemacht werden können, die sich um die Bestattung kümmern.

„Das trifft reiche wie arme Menschen“, sagt Larscheid. „Eigentlich kann es jeden treffen.“ Der 57-Jährige kann das beurteilen – er widmet sich mit ganzer Kraft diesem Thema: Als Amtsarzt hat er mit der Bürokratie der Bestattungen zu tun. Dazu gehört auch, dass er das deutschlandweit erste Zentralarchiv für Leichenschauscheine gegründet hat und verwaltet. Hinzu kommt ein eher ungewöhnlicher Nebenjob: Als studierter Mediziner arbeitet er im ärztlichen Bereitschaftsdienst – und zwar ausschließlich im Leichenschau-Dienst.

Während sich die breite Gesellschaft mehr und mehr vom Tod abwendet, setzt sich Patrick Larscheid diesem Thema bewusst aus.

„Ich finde neue Trauerrituale total schön, weil sie dafür sorgen, dass die Menschenfamilie zusammenhält.“

Patrick Larscheid

Stille Trauer in der Nacht

Vier Nachtschichten im Monat absolviert er, pro Nacht stellt er bis zu 14 Tode fest. „Wir sehen da alles. Jung und alt, dick und dünn. Nicht so schöne und eher ruhigere Tode. In meinen 30 Berufsjahren habe ich ungefähr 15.000 Leichenschauen gemacht.“ Es ist nicht so, dass sein Beruf als Amtsarzt ihn nicht auslastet. Zwangsläufig drängt sich also die Frage auf: Warum fährt ein sechsfacher Familienvater nachts durch Berlin und stellt Totenscheine aus? „Wir treffen häufig auf Angehörige und die brauchen in diesem Moment Trost – das ist ein gewaltiges Privileg“, sagt Larscheid. Da entstünden sehr intime und deswegen sehr schöne Momente. „Wir dürfen als Ärzte in dieser Tätigkeit Menschen ganz, ganz nah kommen.“

Bei einigen dieser Toten, die er in diesen Nächten kennenlernt, sind keine Angehörigen zugegen noch später aufzufinden. Es fehlt der intime Moment des Trauerns. Wer weint um die einsam Verstorbenen? „Auf Anfrage nach einer öffentlichen Trauerfeier hat der Senat auf ganz vielen Seiten ausgebreitet, warum man so etwas nicht tun könnte.“ Larscheid fand diese Antwort empörend – und veranstaltet mit dem befreundeten Pfarrer Andreas Hertel seit sechs Jahren jeden dritten Sonntag im Januar eine Gedenkfeier – als Privatperson, nicht als Amtsarzt.

Selbstgeschaffene Rituale

In Reinickendorf zeigt sich: Wo staatliche Rituale fehlen oder versagen, schaffen sich die Berliner*innen selbst ihre Trauerrituale. Auf die Reinickendorfer Initiative sind inzwischen weitere Stadtteile wie Mitte, Neukölln und Spandau gefolgt. Larscheid sagt, dass es neue Trauerrituale nicht nur für einsam Verstorbene gibt. Auch bei außergewöhnlichen Todesfällen, meist Opfern von Gewalttaten wie beim Attentat am Breitscheidplatz, gebe es oft eine Dynamik des Trauerns, die keiner vorgibt. Es kommen Leute zusammen, die gemeinsam weinen, obwohl sie niemanden kennen. Sie stellen Kerzen ab oder Blumen.

„Ich finde das total schöne Formen der Trauer, weil sie dafür sorgen, dass die Menschenfamilie zusammenhält.“ Weinen und Klagen wirken ansteckend auf andere Menschen. Manchmal reicht es, die verweinten Augen einer Person zu sehen, damit man selbst einen Kloß im Hals bekommt. Und oft laufen unsere Tränen erst, wenn wir anderen von unserer Trauer erzählen. Psycholog*innen und Kulturwissenschaftler*innen wissen um die gruppenbildende Wirkung von gemeinsamem Trauern. Und es ist als solches nicht aus unseren Städten verschwunden – es hat nur individualisiertere Formen angenommen.

Pop-up-Mahnmale

Eine der auffälligsten ist das weißgetünchte Fahrrad am Brandenburger Tor, in dessen Speichen eine gelbe Rose klemmt. „Als wir das Rad vor zwei Jahren aufgestellt haben, war hier alles voller Kerzen“, sagt Benjamin Bös und lässt den Blick über den Bordstein schweifen. Er bleibt auf einem Schild hängen. „Radfahrer, 57 Jahre alt“ steht darauf, ergänzt durch das Todesdatum. „Den Rennradlenker haben wir noch kurz vorher eingebaut, weil es ein Rennradfahrer war.“

Geisterräder heißen diese Pop-up-Gedenkorte. Sie werden genau an jenen Orten aufgestellt, an denen Radfahrende im Verkehr ums Leben gekommen sind. Aufgestellt werden sie von Benjamin Bös und seinen Vereinskolleg*innen vom ADFC, dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club, in Kooperation mit der Bürgerinitiative „Changing Cities“, die Berlin zu einer fahrradfreundlichen Stadt umbauen will. In der Fahrradwerkstatt Velokiez in Kreuzberg bereiten rund 20 Freiwillige regelmäßig Geisterräder vor: Sie entfernen den Gepäckträger und die Bremsgriffe, kürzen die Kette, stopfen die Reifen aus und streichen den Drahtesel komplett weiß. 170 Geisterräder hat der ADFC seit 2009 in Berlin aufgestellt, 14 waren es im vergangenen Jahr.

Gemeinsam radeln und trauern

Doch es geht nicht nur um das Geisterrad, sondern auch um die dazugehörige Gedenkfeier. „Es gibt inzwischen ziemlich klare Abläufe. Wir klären: Wer stellt Mikro und Boxen für die Redebeiträge? Wer kümmert sich um die Beschilderung, wer um die Routenplanung? Und wer transportiert das Rad?“ Bei letzterem Orga-Punkt ruft der 32-Jährige häufig „Hier!“. Auf seinem Lastenrad befestigt er auf der vorderen Ladefläche das Rad, das mit seinem weißen Anstrich Skulpturen gleicht. Gemeinsam radelt die Trauergemeinschaft vom Kreuzberger ADFC-Velokiez zum Unfallort, der sich damit zu einem Trauerort wandelt. Bei der Trauer-Radfahrt treffen sich, ebenso wie in der Reinickendorfer Kirche, Menschen, die sich untereinander nicht unbedingt kennen – und vielleicht auch den*die verstorbene*n Radfahrer*in nicht.

„Wir wollen mit diesen Geisterrädern niemandem einen Vorwurf machen und auch keine Autofahrer anklagen. Es geht um einen Ort der Trauer und um einen Ort der Mahnung.“

Benjamin Bös

Der ADFC macht dabei keine Unterschiede: Jede*r verkehrstote Radfahrer*in bekommt einen Trauerort, egal welche politischen Ansichten beispielsweise jemand vertreten hat. Und es ist bewusst nur ein Angebot für einen Ort des Trauerns, „wir zwingen niemanden dazu“. Benjamin Bös arbeitet als Elektroingenieur, der ADFC ist ein Ehrenamt für ihn. „Geisterräder sind ein Hobby, welches du am liebsten morgen einfach an den Nagel hängen willst, weil es nicht mehr gebraucht wird. Aber du machst es, weil es notwendig ist.“


Text: Nadine Wojcik / Fotos: Nadine Wojcik und Verena Brüning


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