Visionen für morgen Ein Blick in die Zukunft
Wie werden wir in zehn, fünfzig oder hundert Jahren leben? Wir haben eine Schulklasse begleitet und uns im Futurium angeschaut, wie Städte der Zukunft aussehen könnten.

Wie werden wir in Zukunft leben? Sagen wir im Jahr 2155? Für den 12-jährigen Lasse aus Wilmersdorf steht fest, dass die Menschen dann nicht nur auf der Erde, sondern auch auf anderen Planeten siedeln werden. Mit der Überzeugung ist er nicht allein, fast alle Klassenkamerad*innen nicken zustimmend. Viele denken sogar, dass sich ihre Enkel*innen und Urenkel*innen dann allein von Tabletten ernähren. Cool finden sie das nicht. Essen muss ja auch gut schmecken, meinen sie. „Wird es 2155 noch Handys geben?“, fragt Josephine, die den Workshop im Futurium leitet. Die Schüler*innen sind sich nicht einig. „Die Menschen sind viel zu sehr an das Handy gewöhnt“, sagt Nabil. Ella glaubt: „Wir werden dann Kontaktlinsen tragen, mit denen wir direkt ins Internet schauen können.“
Das Futurium wurde im September 2019 eröffnet. Das ungewöhnliche Gebäude befindet sich zwischen Reichstag und Hauptbahnhof
Foto: FUTURIUM Ali Ghandtschi
Die Fünftklässler*innen sind zu Besuch in Deutschlands erstem „Haus der Zukünfte“. Das Gebäude, das das Futurium beherbergt, sieht aus wie ein riesiger Kubus, der auf einer Ecke steht. Es befindet sich gleich neben dem Berliner Hauptbahnhof und ist im September eröffnet worden. Hier dreht sich alles um die Frage, wie wir in Zukunft leben werden – oder wollen, denn sie liegt ja in unserer Hand. Dieser Frage geht die Ausstellung des Futuriums in den drei Denkräumen Natur, Mensch und Technik nach. In verschiedenen Workshops können Schüler*innen ihre eigenen Ideen einer Zukunft entwerfen. So bauen die Schüler*innen aus Wilmersdorf an diesem Montagvormittag eine Unterwasserstadt. Virtuell natürlich. Dazu sollen sie sich in das Jahr 2155 versetzen.
Workshopleiterin Josephine erzählt ihnen, dass die meisten Menschen dann in sogenannten Megastädten mit mehr als zehn Millionen Einwohner*innen leben werden. Auch Berlin könnte 2155 etwa zehnmal so viele Einwohner*innen haben als heute. Und wer weiß, vielleicht entstehen dann auch Städte auf dem Grund der Meere. Außerdem wird es wegen des Klimawandels immer wärmer. Die Kinder bekommen Tablets, auf denen sie die Stadt der Zukunft entwerfen – immer mit dem Ziel, möglichst wenig Ressourcen zu verbrauchen und möglichst umweltschonend zu bauen. Das Ganze erinnert an Computerspiele wie „SimCity“.
Im Futurium können Besucher*innen mögliche Zukünfte entdecken, im Forum gemeinsam diskutieren und im Lab eigene Ideen ausprobieren
Foto: FUTURIUM Jan Windszus
Wissenschaftlerin Rosalina Babourkova hat die Ausstellung im Futurium mitkonzipiert
Foto: Verena Brüning
Während die Kinder darüber diskutieren, wie ihre Stadt aussehen soll, schauen wir uns im Futurium um. Wir werden dabei von Rosalina Babourkova begleitet. „Wir zeigen, dass die Vorstellungen von der Zukunft viele Bereiche betrifft: das Leben in der Stadt, die Energieversorgung, Ernährung, Gesundheit oder die Art und Weise, wie wir arbeiten und Dinge produzieren.“ Die Wissenschaftlerin hat am University College London Geografie, Urbanistik und Umweltmanagement studiert und ist Teil des mehrköpfigen Teams, das die Ausstellung konzipiert hat. Zahlreiche Expert*innen aus Forschungsinstituten und Unternehmen haben dabei geholfen und die Konzepte überprüft.
Der Bosco Verticale, der „vertikale Wald“: Über 800 Bäume und Tausende von Pflanzen befinden sich an den Wohntürmen in Mailand
Foto: Zac Wolff
Wie die Menschen künftig wohnen werden, ist ein wichtiger Aspekt der Schau. In „Grünen Häusern“ vielleicht? Diese gibt es schon heute, in Mailand beispielsweise. Dort steht der Bosco Verticale, der „vertikale Wald“. Die zwei Türme wurden vom italienischen Architekten Stefano Boeri erbaut und sind mit über 800 Bäumen und Tausenden von Pflanzen verkleidet. „Die dichte Pflanzenfassade isoliert das Gebäude und sorgt dafür, dass sich die Innenräume nur langsam erhitzen und wieder abkühlen“, erzählt Stadtforscherin Babourkova. „So spart man Energie und verringert den Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid.“ Doch nicht nur an Hauswänden, auch auf Dächern, Balkons, Parkplätzen, Bürgersteigen und Straßen werden in Zukunft womöglich Bäume, Sträucher und Blumen wachsen. So soll das Klima dort verbessert werden, wo es am nötigsten ist: in den immer größer werdenden Städten. Gebaut werden die Häuser der Zukunft vor allem aus Holz oder Bambus. Anders als Beton und Stahl, wachsen diese Rohstoffe nach und belasten die Umwelt und das Klima viel weniger.
So ist im Futurium ein Baumaterial zu bewundern, für dessen Herstellung man Pilze braucht. Diese bilden unterirdisch ein riesiges, wurzelähnliches, haarfeines Geflecht. Dieses sogenannte Myzel verbindet sich mit Abfällen aus der Landwirtschaft (zum Beispiel gehäckselten Maispflanzen) und kann die ganze Masse so fest machen wie Beton.
Auch für Stahl gibt es natürliche Alternativen. In Asien werden zum Beispiel seit jeher selbst Hochhäuser mit riesigen Gerüsten aus Bambus errichtet. „Wissenschaftler*innen forschen bereits daran, wie man mithilfe von Bambus noch mehr Stahl einsparen kann“, sagt Babourkova. Auch Lehm wird in Zukunft wieder stärker zum Einsatz kommen. „Mithilfe von 3D-Druckern können Architekt*innen daraus viele unterschiedliche Formen erschaffen und Gebäude künftig direkt an Ort und Stelle entstehen lassen.“
Schon heute können 3D-Drucker ganze Häuser bauen
Foto: ICON
Eine gemeinnützige Organisation plant, Häuser wie dieses in nur 24 Stunden entstehen zu lassen
Foto: ICON
Ihr Obst und Gemüse werden die Menschen später wohl nicht nur auf Feldern, sondern auch auf den Dächern ihrer Wohnhäuser ernten – Tomaten, Kräuter, Kohl, Äpfel und sogar Getreide. In New York wird das bereits erprobt. Die größte Dachfarm der Welt, die Brooklyn Grange, ist so groß wie ein Fußballfeld. Wer wissen will, wie das aussieht, kann die Farm im Internet besuchen: www.brooklyngrangefarm.com. In Zukunft werden viele Menschen also nicht nur im Supermarkt, sondern auch im eigenen Hochhaus einkaufen können.
Auch das Zuhause selbst hilft heute schon durch technische Ausstattung bei alltäglichen Aufgaben. Stichwort: Smart Home. Man kann per App abfragen, welche Vorräte noch im Kühlschrank lagern und was fehlt. Die Heizung schaltet sich automatisch ein, die Waschmaschine und der Kühlschrank stimmen sich untereinander ab, wer wann Strom verbraucht, sodass die Solaranlage auf dem Dach immer optimal ausgelastet ist. Es wird wohl nicht bis 2155 dauern, bis intelligente Systeme in jedem Haus Standard sind.
Weil die natürlichen Vorräte von Kohle, Erdöl und Gas in Zukunft weiter schrumpfen, werden die Wohnungen der Zukunft vor allem mithilfe von Erdwärme geheizt. Große Wärmepumpen ziehen die Wärme aus tieferen Schichten des Erdbodens. Angetrieben werden sie mit Strom aus erneuerbaren Energien, die aus Sonne, Wind oder den Gezeiten der Meere gewonnen werden. Solarzellen bedecken dann nicht nur die Dächer, sondern auch Wände und andere freie Flächen, Bushaltestellen etwa oder auch Straßen. „Statt Windrädern gibt es vielleicht riesige Drachen, die viele Hundert Meter hochsteigen und dort die Energie des Windes aufnehmen“, erzählt Babourkova.
Vieles von dem, was im Berliner Haus der Zukünfte zu sehen ist, wird in der nahen oder ferneren Zukunft Wirklichkeit sein – wenn auch nicht genau so, wie wir uns das heute ausmalen. Man muss sich nur einmal ansehen, wie sich die Menschen vor 100 Jahren die Zukunft vorstellten. So glaubte der Künstler Jean-Marc Côté damals, dass Briefträger*innen heute auf einer Art beflügeltem Motorrad sitzen und die Briefe direkt in die Fenster der Wohnungen werfen. Immerhin: Auch wenn unsere Briefträger*innen bis heute auf dem Boden bleiben, erinnert Côtés Vision natürlich an jene Drohnen, die schon heute für den Transport von Waren erprobt werden.
Und so geht es auch den Fünftklässler*innen: Ob ihre Vorstellungen von der Zukunft Wirklichkeit werden oder Science-Fiction bleiben, weiß niemand. Eines ist aber gewiss: Lasse, Marie, Nabil, Ella, Finn und die anderen Kinder haben unzählige Ideen. Und vor allem wissen sie eines: Wenn wir auch im Jahr 2155 noch gerne auf diesem Planeten leben wollen, müssen wir bereits heute die Umwelt und das Klima schonen. Was jede*r Einzelne dazu beitragen kann? Auch das zeigt das Futurium.
Leben in der Stadt 2030
Svenja Schüler ist Auszubildende bei der GESOBAU im dritten Lehrjahr. Die 23-Jährige wird Immobilienkauffrau. 2019 nahm sie an der „Lerninsel“ teil, einem Förderprogramm der BBA – Akademie der Immobilienwirtschaft. Das diesjährige Thema war „Stadt und Land der Zukunft 2030“.
Sie haben sich mit dem Wohnen in der ganz nahen Zukunft beschäftigt. Was ist denn eine Herausforderung für das Leben in der Stadt im Jahr 2030?
Ganz klar: Platz. Immer mehr Menschen kommen in die Stadt, und dann wird es eng. Auch neue Bauflächen sind nicht so leicht zu bekommen – man muss sich etwas für die bestehenden Gebäude einfallen lassen.
Was denn?
Da gibt es jede Menge Potenzial. Eine Idee: mehr kleine Wohnungen schaffen. Ältere, die in sehr großen Wohnungen leben, könnten sich verkleinern, dafür bekommen sie in einem neuen Geschoss Gemeinschaftsflächen. So können sie weiterhin zum Kaffeetrinken einladen oder haben Platz für ein Hobby. Um einen Anreiz für die Verkleinerung zu schaffen, könnten Kooperationen mit lokalen Geschäften oder Friseur*innen entstehen: Ältere bekommen praktische Dienstleistungen direkt nach Hause – und müssen weder den vertrauten Kiez verlassen noch auf Komfort verzichten.
Und wer koordiniert das alles?
Das können die Leute selbst tun. Über eine App. Eine andere Idee, um Wohneinheiten zu verkleinern, ist ein Lagerservice: In ein Lager kommen Dinge, die man nicht ständig braucht und für die man keinen Platz hat, Kisten mit Weihnachtsbaumschmuck zum Beispiel. Und wenn man etwas braucht, bestellt man die Box per App und lässt sie sich nach Hause schicken.
Text: Regina Köhler / Aufmacherbild: Verena Brüning