Stadtnatur Der Fuchs ist längst Berliner
Sie streunen sogar tagsüber um die Häuser: Füchse hat wohl jede*r Berliner*in schon mal gesehen. Wir begleiten Berlins Wildtierbeauftragten Derk Ehlert durch das Märkische Viertel – und stoßen dabei auf die Spuren von Wildschweinen.
In der Morgendämmerung laufen wir durch feuchtes Gras am Ufer des Seggeluchbeckens. Im Hintergrund: das Märkische Viertel. Vorsichtig setzen wir jeden Schritt, um keinen Lärm zu machen. Im breiten Schilfgürtel, der das Luch umgibt, knistert es manchmal. Vögel fliegen auf. Derk Ehlert greift dann jedes Mal schnell zum Fernglas, das um seinen Hals hängt. Noch haben die Bäume und Büsche ringsum nur kleine zartgrüne Blätter. Die Vögel sind zwischen den Ästen gut zu erkennen. „Hören Sie doch mal“, flüstert er plötzlich, „eine Nachtigall.“ Wir lauschen. Da ist er tatsächlich, dieser ziehende Ruf, fast wie ein Schluchzen. „Den hört man bis hinauf zum 13. Stock“, sagt Ehlert. Das hat ihm ein Bekannter erzählt.
Derk Ehlert, 52 Jahre alt, braune Funktionskleidung, Wanderschuhe, ist Berlins Wildtierbeauftragter. An diesem Morgen läuft er durch das Märkische Viertel in Reinickendorf, einem der größten Siedlungsgebiete der Stadt. In den Hochhäusern leben rund 40.000 Menschen. Ehlert kennt das Viertel gut. Vor Jahren hat er hier seine praktische Ausbildung als Landschaftsgärtner absolviert und ist seitdem immer wieder zurückgekommen. „Wer hier wohnt, lebt nicht nur in der Stadt, sondern auch in der Natur“, sagt er. Das Viertel ist großzügig geplant, es gibt viel Raum zwischen den Häusern, viel Grün. „Ideale Bedingungen für verschiedene Vogelarten.“ Am Himmel kann man Mauersegler beobachten, Reiher, Ehlschwalben und eben viele Nachtigallen. Am Boden gibt es die „Big Five“. So werden eigentlich die fünf Wildtierarten Afrikas bezeichnet, die man auf einer Safari sehen möchte. Hier im Norden Berlins beschreibt Big Five die Füchse, Wildschweine, Waschbären, Marder und Kaninchen.
„Wer hier wohnt, lebt nicht nur in der Stadt, sondern auch in der Natur.“
Derk Ehlert
Wir bleiben vor einer großen Schilffläche am Rande des Seggeluchs stehen. Derk Ehlert atmet tief durch die Nase ein. „Es riecht nach Maggi“, sagt er. „Ein Zeichen, dass Wildschweine in der Nähe sind.“ Ihr Körpergeruch erinnere an den Geruch von Liebstöckel, des sogenannten Maggikrauts. Tagsüber verstecken sich die Tiere gern im Schilf. Dort sind sie ungestört. An einer Stelle des Luchs ist deutlich ein schmaler Gang zu erkennen, der ins Innere des Schilfes führt. „Momentan sind hier etwa acht Wildschweine unterwegs“, sagt Ehlert. An vielen Stellen rund um das Wasser ist die Grasfläche aufgewühlt. Es sieht aus, als hätte jemand versucht, Teile der Wiese umzugraben. Ziemlich unordentlich. Manche Anwohner*innen ärgere das, meint Ehlert.
„Wir leben nun mal in der Natur“, sagt Marianne Grabowsky, ihr Mann Manfred nickt. Das Ehepaar wohnt seit 50 Jahren im Märkischen Viertel. „Das Klima hier ist wie auf Sylt“, sagt die Rentnerin. Smog gebe es nicht. Zu ihrem Schrebergarten, der hinter dem Seggeluchbecken liegt, braucht das Ehepaar keine zehn Minuten. Am Eingang ihrer Laube aus Holz steht ein alter Rosenbusch, die Gemüsebeete sind ordentlich bestellt, die Obstbäume beschnitten.
Die gesamte Gartenanlage ist eingezäunt. Die Wildschweine kommen trotzdem und graben mit ihren kräftigen Rüsseln entlang des Zaunes nach Eicheln, Wurzeln, Würmern und Schnecken. Auch hier sieht der Boden aus, als habe ihn jemand umgegraben. Seit der Maueröffnung seien es mehr geworden, sagt Marianne Grabowsky. „Die Tiere kommen aus dem Brandenburger Umland. Früher ging das wegen der Grenze ja nicht.“
Das kann Derk Ehlert nicht bestätigen. Er erzählt, dass die meisten Wildschweine in den Berliner Wäldern zu Hause seien. Das Seggeluchbecken sei direkt mit dem Tegeler Fließ verbunden. Die Schweine könnten ungehindert von einem Stück Natur ins andere wandern. Geschossen werden dürfen Wildschweine in der Stadt nur, wenn Gefahr in Verzug ist. Dann wird die Polizei informiert und ein Stadtjäger gerufen. „Aus Erfahrung wissen wir aber, dass selbst das Jagen die Gesamtzahl der Tiere kaum verringert“, sagt Ehlert. Vor 50 Jahren seien in Deutschland rund 50.000 Schweine im Jahr geschossen worden. 2018 waren es 800.000. „Trotzdem nimmt der Bestand weiter zu.“
Gerade in den Städten sind die Lebensbedingungen für Wildtiere ideal. Sie finden genug Futter und auch entsprechende Rückzugsräume. „Wir müssen mit den Tieren leben. Es gibt kein Zurück mehr“, sagt Ehlert. Die meisten Berliner*innen sehen das entspannt. Manche fütterten die Wildtiere sogar. Das sei aber verboten. Ehlert erklärt warum: „Die Tiere verlieren ihre natürliche Scheu. Die Balance im Miteinander von Mensch und Tier gerät aus den Fugen.“ Angst müsse man vor den Tieren aber auch nicht haben. „In meinen 20 Dienstjahren als Wildtierbeauftragter habe ich keinen einzigen Fall erlebt, in dem ein Wildschwein oder ein Fuchs einen Menschen angegriffen hätte“, sagt er. Füchse seien manchmal sehr zutraulich. „Die haben sich derart an den Menschen und seine Verhaltensweisen gewöhnt, dass sie keine Angst mehr haben.“
„Der Fuchs ist längst ein Stadtbewohner“, meint auch Konstantin Börner, Biologe am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW). Pro Quadratkilometer würden etwa 30 Füchse leben, mehr als auf dem Land, wo sie längst nicht so viel Futter finden. Genaue Zahlen gibt es allerdings nicht. Um herauszufinden, welche Wildtiere in welcher Zahl in der Stadt unterwegs sind, hat das IZW die Berliner*innen in diesem Frühjahr aufgerufen, sich spezielle Kameras abzuholen und diese vier Wochen lang in ihren Gärten oder Hinterhöfen anzubringen. „Für den Herbst ist eine weitere Aktion geplant“, sagt Börner. Die meisten Probleme mit Wildtieren gibt es in den Schrebergärten.
Waschbären, Marder oder Kaninchen finden hier viele Leckerbissen. Zäune sind für diese Tiere keine Hindernisse, sodass sie ungehindert plündern können. Da werden Kirschen und Beeren geklaut, Löcher gebuddelt und Laubendächer beschädigt. Gärtnerin Marianne Grabowsky erzählt: „Vor einiger Zeit stand in unserer Anlage eine Laube leer. Dort hat sich dann ein Marder eingerichtet. Der hat die Nachbarschaft ganz schön in Schach gehalten.“
Wer von solchen Raubzügen betroffen ist, dem fällt es schwer, gelassen zu bleiben. Umso wichtiger ist es, einige Vorkehrungen zu treffen: Müll sollte unbedingt abschließbar untergebracht werden, Essensreste nicht auf dem Kompost landen. Marder kann man mit speziellen Manschetten davon abhalten, auf Bäume zu klettern. „Und bitte nicht füttern“, wiederholt Derk Ehlert, egal wie tierlieb man sei. Um kurz vor acht haben wir das Seggeluchbecken umrundet. Derk Ehlert muss nun an seinen Schreibtisch, schließlich ist er für ganz Berlin zuständig. Wie viele Wildtiere im gesamten Stadtgebiet leben, weiß auch er nicht. Was er mit Sicherheit sagen kann, ist, dass es in der Innenstadt weniger sind als hier am Stadtrand. „Im Märkischen Viertel hat so gut wie jede*r Anwohner*in schon mal einen Fuchs getroffen oder Wildschweine gesehen.“
Vögeln geht es in der Stadt inzwischen sogar oft besser als auf dem Land, wo die intensive Bewirtschaftung der Ackerflächen zu einem dramatischen Artensterben führt. „Gerade in Stadtrandlagen wie dem Märkischen Viertel haben die Vögel beste Lebensbedingungen“, sagt Derk Ehlert. Kein Wunder, dass wir ausgerechnet hier die Nachtigall hören. Auch einen Graureiher sehen wir am Ende unseres Spazierganges noch. Er steht mitten im Luch, ganz still, wirkt wie eine Attrappe. Schrebergärtner*innen, die einen Teich in ihrem Garten angelegt haben, mögen ihn nicht besonders. „Er klaut ihre Fische“, erklärt Ehlert.
Marianne und Manfred Grabowsky haben einen kleinen Teich in ihrem Garten, der von Molchen bewohnt wird. Die beiden haben es sich zudem zur Aufgabe gemacht, Singvögeln zu helfen. Sie haben Nistplätze eingerichtet und dafür gesorgt, dass Waschbären die Nester nicht plündern können. „Spatzen haben wir viele. Aber es gibt auch Schwanzmeisen, Gartenrotschwänzchen, Heckenbraunellen und Buchfinken“, sagt Marianne Grabowsky. Nur Nachtigallen brüten nicht in ihrem Garten – zu hören aber sind sie auch hier.
Text: Regina Köhler / Fotos: Fabian Zapatka