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Im Kiez

„Tatorte werden zu Trauerorten“

Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel betrachtet im Interview eine neue Form des Trauerns

Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel hat sich in ihrer Arbeit mit einer neuen Form des Trauerns beschäftigt. Es sei auffällig, dass klassische Trauerrituale wie schwarze Kleidung an Bedeutung verlieren. Andererseits fänden sich Menschen vermehrt zum „Public Crying“ zusammen.

Frau Weigel, warum trauern wir eigentlich?

Trauer ist ein ganz wichtiges Moment in der Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit. Indem wir anderen unsere Empfindungen mitteilen und sie mit ihnen teilen, werden wir zu gefühlsfähigen Wesen. Trauer und Mitgefühl hängen sehr eng zusammen. Aus meiner Sicht ist das Mitgefühl in einem kulturgeschichtlichen Prozess aus dem gemeinsamen Trauern entstanden.

Kann man Mitgefühl lernen?

Die Entwicklungspsychologie hat beobachtet, dass schon Kleinkinder empathiefähig und hilfsbereit sind. Allerdings gibt es familiäre oder soziale Bedingungen, unter denen diese Fähigkeit weniger oder gar nicht ausgebildet wird. Deshalb ist die Frage für mich eher, unter welchen Bedingungen Empathie verlernt wird.

Wie haben sich Trauerkultur und -rituale im Laufe der Zeit verändert?

Die Kultur der Beerdigung und der Begräbnisrituale ist in der Moderne professionalisiert und den Menschen eigentlich aus der Hand genommen worden. Es ist zu einer Dienstleistung geworden, bei der es darum geht, den Leichnam so schnell wie möglich aus dem Haus zu bringen. Früher blieb der Verstorbene noch eine Weile im Hause. Die Angehörigen saßen beisammen und nahmen Abschied. Als ich sechs Jahre alt war, verstarb mein Vater. Meine Mutter trug ein halbes Jahr Schwarz und mir wurde eine schwarze Binde um den Arm gebunden. All diese Trauersymbole sind weitgehend verschwunden.

Warum ist Trauer aus unserem Alltag nahezu verschwunden?

Trauer stört in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Angeblich übermäßiges Trauern wird dann als krankhaft bewertet. In den Krankheitsbildern der Psychologie hat sich die Zeitspanne für sogenanntes normales Trauern immer mehr verkürzt. Wenn man darüber hinaus noch nicht wieder funktioniert, wird das als krankhaft beschrieben.

Was ist so schlimm daran, dass Trauerrituale abhandengekommen sind?

Menschen brauchen Rituale. Rituale schaffen Gemeinschaft, schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl und Möglichkeiten, außergewöhnlichen Erfahrungen eine Form zu geben. Dort, wo keine bereitstehen, sind die Einzelnen auf sich selbst zurückgeworfen, um mit Krisen und Katastrophen fertig zu werden. Und das führt dann häufig zu einer stärkeren Traumatisierung.

Sie haben aber beobachtet, dass es neue Trostorte gibt – mit neuen Ritualen.

Die Menschen haben sich die Rituale sozusagen zurückgeholt, und zwar zivilgesellschaftlich. Es gibt einerseits den Trend zur Individualisierung von Begräbnisritualen. Also die Menschen überlegen sich, wie sie beerdigt werden wollen. Damit wollen sie über den Tod hinaus ihre individuelle Persönlichkeit ausdrücken. Und auf der anderen Seite hat sich in letzter Zeit bei außergewöhnlichen, oft massenhaften Todesfällen eine kollektive Trauerkultur entwickelt, bei der Menschen im öffentlichen Raum zusammenkommen, die sich oft vorher überhaupt nicht kannten, um gemeinsam zu trauern.

Können Sie ein Beispiel nennen? Wann findet das statt?

Es ist auffällig, dass gemeinsames Weinen in der Öffentlichkeit bei Katastrophen wie beispielsweise einem Amoklauf in einer Schule oder einem Terrorattentat stark zugenommen hat. Tatorte werden in Trauerorte verwandelt, es werden Blumen hingelegt und Kerzen angezündet. Oft finden sich Kuscheltiere, auch bei erwachsenen Opfern. Kuscheltiere sind ein Symbol für Mitgefühl. Kinder bekommen Teddybären, um im Bett nicht allein zu sein. Der Ort wird damit für einen bestimmten Zeitraum verändert. Es ist ein flüchtiger Trauerort, meist mitten in der Stadt, anders als dauerhafte Orte wie Friedhöfe, Denkmäler oder Mahnmale. Deshalb nenne ich das „Public Crying“.

Also öffentliches Weinen?

Ja, das genaue Gegenteil zum Public Viewing. Dabei treffen sich Menschen im öffentlichen Raum, um gemeinsam ein Fußballspiel oder Popkonzert anzuschauen, eine kollektive Spaßkultur. Auch Public Crying ist ein soziales Phänomen, aber mit umgekehrtem Vorzeichen. Ich glaube, dass gemeinsames Trauern notwendig ist, um Schocks zu verarbeiten, ein Sich-gegenseitig-Trösten. Da kommt das Wort con-dolere zu seiner eigentlichen Wortbedeutung: mit-leiden.

Es gibt auch Kritik, dass dieses gemeinsame Trauern zu einem medialen Event wird.

Das passiert. Jedoch muss man da unterscheiden. Das erste Mal bin ich auf Public Crying beim Amoklauf an einer Schule 2002 in Erfurt aufmerksam geworden, bei dem ein Schüler mehrere Lehrer und Mitschüler erschossen hat. Die Schülerinnen und Schüler standen unter Schock, ganz plötzlich wurden einige von ihnen auf eine ganz grausame Art und Weise aus ihrer Mitte gerissen. Daraufhin haben sie angefangen, den Schulhof selbst in einen Trauerort zu verwandeln. Als die Presse fotografieren und berichten wollte, haben sich etliche gewehrt. Das war vielen nicht recht. Public Crying ist tatsächlich ein Versuch, mit der Trauer nicht allein zu bleiben.

Es ist eine Trauer, die von unten kommt. Und doch erscheinen häufiger Politiker*innen bei solchen Trauerritualen.

Wenn dann eine Art Staatstrauergottesdienst inszeniert wird, dann nimmt man den Betroffenen und Beteiligten schon wieder ihre eigenen Rituale aus der Hand. So kommt es nicht selten zu einer Instrumentalisierung solcher Trauerrituale. Public Crying ist längst zu einem festen Bestandteil geworden und wird daher zunehmend mit politischen Deutungen belegt. Dagegen muss man sich wehren, wir werden es aber nicht vollständig verhindern können.

SIGRID WEIGEL

Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel war Direktorin des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung. Sie hat sich in ihrer Forschungskarriere mit zahlreichen kultursoziologischen Phänomenen beschäftigt – unter anderem mit dem Trauerritual „Public Crying“. Weigel trägt vier Ehrendoktor-Titel, ist mehrfach für ihre wissenschaftliche Arbeit ausgezeichnet worden und hat als Autorin etlicher Monografien (u. a. über Walter Benjamin, Ingeborg Bachmann, Genea-Logik) und Herausgeberin von kultur- und literaturwissenschaftlichen Publikationen internationale Bekanntheit erlangt.


Text: Nadine Wojcik; Fotos: Verena Brüning


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