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Im Kiez

Der Galileo aus der Ungarnstraße

Nikolaus Constroffer greift nach den Sternen. In seinem Seniorenwohnhaus hat er ein Teleskop für alle auf den Balkon gestellt. Was sieht er?

Wenn es dunkel wird über dem Seniorenwohnheim in der Ungarnstraße 83, zieht Nikolaus Constroffer seinen Strickpulli über, schlüpft in die Latschen und schlappt leise auf den Balkon. Dort hat er eine besondere Verabredung: mit der Unendlichkeit. Der 70-Jährige stellt sein Teleskop auf die Platten, beugt sich zum Okular und sucht damit den Himmel ab. Dann rückt er sein Teleskop etwas weiter nach rechts, schaut erneut durch die Linsen, stellt das Objektiv ein, blickt in den Himmel, rückt das Gerät ein Stück nach links, schaut, rückt, schaut und zoomt: Ah, der Mond, na immerhin. „Mit dem einfachen Teleskop kann man den Mann auf dem Mond nicht winken sehen“, sagt Constroffer, „aber man kommt schon näher ran.“ Im Teleskop zeigt sich eine graue, ruhige Kraterlandschaft, Inbegriff der Nacht. 

Das Sternenschauen in der Großstadt

Seit 2020 erst wohnt Constroffer im Wedding. Der gelernte Werkzeugmacher kommt aus dem Saarland und zog 1977 nach West-Berlin, „um zu helfen“, wie er sagt. Denn damals wurden in West-Berlin händeringend Arbeitskräfte gesucht. An einem Freitagabend flog er zum Bewerbungsgespräch und am darauffolgenden Dienstag begann er seinen neuen Job bei Siemens. So viele Dekaden hat er in der Großstadt gelebt, vielleicht auch viele Sternstunden erlebt. Aber eines hat ihm immer gefehlt: In den Wäldern des Saarlands gab es für Constroffer früher mehr zu sehen als heute in Berlin. Dort sehe man einfach mehr Sterne, mehr Planeten. In Berlin ist es dafür zu hell. „Trotzdem muss ich auch hier schauen, ob noch alle Sterne da sind“, sagt Constroffer. Über eine App informiert er sich: Um 3 Uhr morgens könne man derzeit die Venus sehen, der Aufgang vom Saturn folgt um 5 Uhr.

Sonnenbeobachtungen und Zeitreisen

Tagsüber, wenn es nicht bewölkt ist, kann man die Sonne anschauen und Sonnenflecken suchen: dunkle Stellen auf der Sonnenoberfläche, die kühler sind und daher weniger sichtbares Licht abstrahlen. Beim Blick in die Sonne sollte man den Lichtfilter nicht vergessen, sonst wird das Auge geschädigt.

„Die Sterne sind das Licht von vor einer Milliarde Jahren.“

Für andere Planeten, wie den Merkur zum Beispiel, ist sein Teleskop zu schwach. Früher, im Saarland, da hatte Constroffer ein stärkeres. Als er nach Berlin ging, hat er es verschenkt und 1985 ein neues gekauft. Er schaut abgelenkt umher, lächelt. „Herr Constroffer?“ Oh, er entschuldigt sich. „Ich hatte gerade an etwas gedacht.“ Dann erzählt er von seinen Reisen nach Peru und Ägypten, Expeditionen in die Wüste mit Beduinen und Forschenden. „Das war, als stünde man zwischen den Sternen.“ So stockduster war es dort und so gut die Instrumente zur Sternensichtung. Die Sterne – sie tragen ihn immer wieder zurück in die Vergangenheit. „Aber die Terrasse ist auch super“, ergänzt er. Sie ist groß und man hat freie Sicht in den Himmel, das Wohnheim ist nicht umstellt von Hochhäusern. Als würde sich der Himmel darbieten für die Bewohnerinnen und Bewohner der Ungarnstraße 83.

Ein Teleskop für gemeinschaftliche Himmelserkundung

Seit Constroffer eingezogen ist, dürfen sie sein Teleskop nutzen, er hat es der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt. Aber nicht alle erkennen den sich bewegenden, abwechslungsreichen Himmel, die Energie der Sterne oder die Weite des Universums – und verlieren nach einmal durchschauen das Interesse. Andere kommen öfter „mal schauen, was im Himmel los ist“.

Ein Ehepaar unterhält sich gerne angeregt mit Constroffer über Astronomie, auch andere fragen ihn, wie es den Sternen geht. „Die Sterne sind das Licht von vor einer Milliarde Jahren“, schwärmt er. „Man sieht, was vielleicht schon nicht mehr existiert. Der Stern könnte schon erloschen und verglüht sein.“ Schon tot, aber für andere noch lebendig zu sehen. Ein Zwischenstadium der Existenz. Denn es dauert Lichtjahre, bis wir „hier unten“ auf der Erde das Verglühen eines Sternes sehen können. Wobei, ähm, man ja gar nicht „hier unten auf der Erde“ sagen sollte, denn diese ist ja keine Scheibe (mehr).


Text und Fotos: Robert Klages


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