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Schlüssel

Zu Hause

Der Schlüssel in ein neues Leben

In Berlin leben mehrere Tausend Menschen ohne festen Wohnsitz. Ein ehemaliger Obdachloser berichtet, wie er auf der Straße überlebte – und schließlich eine Wohnung fand.

Alles, was Klaus Seilwinder besaß, passte in einen verlassenen Fuchsbau im Tiergarten. Schlafsack, Isomatte, etwas Wechselwäsche und Hygieneartikel verstaute er in einer Plastiktüte in dem Erdloch, während er tagsüber Flaschen sammelte. „20 bis 25 Euro verdiente ich damit – genug für Alkohol, Zigaretten und ein bisschen Essen“, erzählt der schmale, leicht gebückte Mann. Sieben Jahre lebte er in Berlin auf der Straße.

Schon vorher trank er zu viel. „Ich arbeitete damals als Erntehelfer bei einem Tabakbauern im Brandenburgischen“, sagt er. „Als es Probleme mit meinem Arbeitgeber gab, reagierte ich, wie es die meisten Alkoholiker tun: Statt sie unter Männern zu klären, rannte ich davon.“

Sein Ziel war eigentlich der Süden Deutschlands. Doch am Bahnhof Zoo endete Klaus Seilwinders Reise. Bei der Bahnhofsmission schloss er sich einer Gruppe „Suffköppe, wie icke einer war“, an und campierte mit ihnen im Park. „Auf der Straße ist man aufeinander angewiesen“, sagt der 64-Jährige. „Man passt auf die Sachen des anderen auf und gibt sich Sicherheit gegen Angriffe, zum Beispiel durch Neonazis.“

Der Berliner Senat initiierte 2020 eine erste systematische Zählung von Obdachlosen, bei der nicht alle Betroffenen erfasst werden konnten. „Wir gehen von mindestens 3000 Obdachlosen in Berlin aus“, sagt Barbara Breuer, Sprecherin der Berliner Stadtmission. Andere Expert*innen setzen die Zahl noch höher an.

Die evangelische Hilfsorganisation betreibt mehrere Notunterkünfte mit mehr als 270 Schlafplätzen, in denen die Menschen Essen und frische Kleidung bekommen sowie die Möglichkeit, zu duschen. Mediziner*innen verbinden Wunden und bekämpfen Läuse oder Krätze. Drei Kältebusse hat die Berliner Stadtmission in diesem Winter im Einsatz.

„Die Coronapandemie hat die Situation der Wohnungslosen noch einmal verschärft“, erläutert Breuer. „Viele Notunterkünfte waren im letzten Winter zeitweise geschlossen. Da keine Veranstaltungen mehr stattfanden und Restaurants geschlossen waren, waren viel weniger Menschen unterwegs. Spenden blieben aus, Pfandflaschen wurden auch nicht mehr abgestellt.“ In diesem Winter werden die Notunterkünfte wieder fast im Normalbetrieb arbeiten, mit regelmäßigen Coronatests, Impfangeboten und Quarantäneräumen.

Erst die Wohnung, dann die Papiere

Doch die Hilfsorganisationen sichern nicht nur das Überleben Obdachloser in kalten Winternächten. Sie möchten gemeinsam mit den Betroffenen auch Wege finden, die sie aus ihrer Situation herausführen.

Ein Projekt der Berliner Stadtmission und der Neue Chance gGmbH, das von der GESOBAU unterstützt wird, ist die Initiative „Housing First Berlin“, was so viel heißt wie „zuerst Wohnraum“. Der Ansatz stammt aus den USA. Er soll den Teufelskreis durchbrechen, in dem für eine Wohnung erst eine Meldeadresse, Versicherungen oder gar ein Einkommensbescheid vorliegen müssen – Hürden, die für viele Obdachlose schwer zu nehmen sind, weiß Sebastian Böwe.

Der Wohnungsscout und Sprecher von „Housing First Berlin“ hat einen 24-Stunden-Job. In Zeiten, in denen es selbst für Normalverdiener*innen in Berlin nicht leicht ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden, muss er immer erreichbar sein, falls ein*e Vermieter*in etwas Passendes hat. Aber auch bei Problemen zwischen Mieter*innen und Vermieter*innen sind er und sein Team immer ansprechbar. „Das kommt zum Glück fast nie vor“, sagt Sebastian Böwe. „Im Gegen­teil: Unsere Klient*innen gehen meist sehr sorgfältig mit ihren Wohnungen um.“

42 Mietverträge wurden bereits unter­schrieben, nicht nur bei städtischen Wohnungsbaugesellschaften wie der GESOBAU, sondern auch bei privaten Vermieter*innen. In Zukunft sollen es noch deutlich mehr werden.

Tränen bei der Schlüsselübergabe 

Der Kontakt zu den Obdachlosen kommt über Sozialarbeiter*innen zustande. Sie treffen entweder in Suppenküchen oder auf der Straße auf die oftmals schon seit Jahren obdachlosen Menschen. Im Gegensatz zu Notunterkünften, Wohnheimen und oft nur für einen begrenzten Zeitraum vermieteten Trägerwohnungen erhalten sie in den Wohnungen von „Housing First Berlin“ eine langfristige Perspektive. Endlich ein Ort, an dem sie ihren Besitz sicher verstauen und ruhig schlafen können, ohne Angst vor Störungen oder Angriffen. Und das in einer ganz normalen Nachbarschaft, in der meist niemand ihre Geschichte kennt.

Nicht selten fließen bei der Schlüsselübergabe Tränen. „Wir hatten einen Klienten, der vier Wochen lang seine Sachen nicht ausgepackt hat“, erinnert sich Sebastian Böwe, „weil er einfach nicht glauben konnte, dass er jetzt in den eigenen vier Wänden lebt.“

In der Wohnung werden seine Klient*innen weiterhin betreut. Sozialarbeiter*innen helfen beim Sesshaftwerden, begleiten bei Behörden- gängen oder unterstützen beim Umgang mit Geld.

Die wenigsten Menschen leben freiwillig auf der Straße. Oft ist es eine Verkettung von Sucht und psychischer Erkrankung, Jobverlust und Trennung, die die Abwärtsspirale in Gang setzt. Briefe mit Rechnungen werden nicht mehr geöffnet, bis eines Tages der*die Gerichtsvollzieher*in vor der Tür steht und die Wohnung gekündigt wird, erläutert Sebastian Böwe. Die GESOBAU rät ihren eigenen Mieter*innen, bei Mietschulden unbedingt zuerst auf sie zuzukommen. Der gemeinnützige Träger GEBEWO – Soziale Dienste – Berlin bietet im Auftrag der GESOBAU seit mehr als 20 Jahren Härtefallberatungen an. Sozialarbeiter*innen suchen die Betroffenen auch zu Hause auf. Zusammen mit Schuldnerberatungen oder dem Jobcenter lässt sich oft eine Lösung finden, ohne dass der*die Mieter*in ausziehen muss.

Aufmerksamkeit wecken durch Theater

Rainer von Dziegielewski entschied sich anfangs aus freien Stücken für ein Leben ohne festen Wohnsitz. Auf der Walz, also während der Wanderjahre als Handwerksgeselle, lernte er die Freiheit eines solchen Lebens schätzen. Er bereiste die Welt, lebte in Spanien, Griechenland, Österreich und der Schweiz, zeitweise in einem ausgebauten Bus. Wenn er Geld brauchte, arbeitete er. Doch irgendwann wurde seine Alkoholsucht so stark, dass das nicht mehr möglich war. Er landete auf der Straße.

Inzwischen hat Rainer von Dziegielewski dem Alkohol abgeschworen und lebt in einer eigenen Wohnung. Zusammen mit Klaus Seilwinder spielt er in einer Theatergruppe des Brückeladens in Schöneweide mit. Das Ensemble inszeniert Stücke, in denen es seine eigenen Erfahrungen verarbeitet.

Die Einrichtung der GEBEWO bietet ehemals obdachlosen Menschen Beschäftigungsangebote und Beratung. In den hellen Räumen können die Besucher*innen malen oder töpfern und Kurse der „Obdachlosen-Uni“ besuchen. Diese mobilen Bildungsangebote für Menschen, die obdachlos sind oder waren, reichen von der Sportgruppe bis zum Kochkurs.

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Ämterodyssee zur eigenen Wohnung

Für Klaus Seilwinder führte der Weg aus der Obdachlosigkeit heraus über einen alten Freund. Er setzte ihm eine Frist: „Von Januar bis März 2008 durfte ich in seiner kleinen Einzimmerwohnung leben“, erzählt er. „Gemeinsam arbeiteten wir uns durch den Bürokratiedschungel, beantragten einen Personalausweis für mich und brachten mich wieder in die Krankenversicherung.“ Jeder Erfolg wurde mit einigen Schnäpsen begossen.

Damit waren die ersten Schritte zurück in eine bürgerliche Existenz getan, doch den Sommer über verschlug es Klaus Seilwinder wieder auf die Straße. Inzwischen Einzelkämpfer, hatte er seinen Schlafplatz nun auf einem Spielplatz am Spittelmarkt. Dort lernte er auch seine Patenfamilie kennen, mit der er bis heute Kontakt hält. Sie half ihm auch beim Umgang mit den Ämtern. Im Winter desselben Jahres hatte er ein Einzelzimmer in einem Wohnheim. Nach weiteren Stationen in einer betreuten WG und einem Alkoholentzug vor knapp zehn Jahren lebt er heute in seiner eigenen Wohnung.

Bei Stadtführungen der Initiative „querstadtein“ erzählt Seilwinder von seinen Erfahrungen als Obdachloser. Er zeigt die Plätze, an denen er schlief, und berichtet von der schwierigen Rückkehr in ein normales Leben. „Mir ist es wichtig, auf das Thema aufmerksam zu machen, damit es von der Politik nicht vergessen wird“, sagt er. „Für mich ist es gleichzeitig eine Art Nachsorgetherapie. Dort, wo ich damals war, will ich nicht mehr landen. Vielleicht kann ich anderen helfen, die in einer ähnlichen Situation sind.“

Wie kann ich helfen?

Direkte Spenden
Jede*r kann Obdachlose nach den eigenen Möglichkeiten mit Essen oder etwas Geld unterstützen. Zum Geben gehört aber auch, den Menschen selbst zu überlassen, wie sie das Geld ausgeben.

Kältebus
Den Berliner Kältebus erreicht man unter der neuen Nummer 030 690333690. Er bringt die Betroffenen auf Wunsch in eine Notunterkunft. Achtung: Wer in einer kalten Nacht einen obdachlosen Menschen findet, sollte ihn erst fragen, ob er Hilfe annehmen möchte, und erst dann den Kältebus der Berliner Stadtmission anrufen.

Berliner Stadtmission
Hier helfen etwa 1.500 Ehrenamtliche mit, teilen Essen aus oder begleiten den Kältebus. Auch das ist eine Möglichkeit, sich zu engagieren. Infos unter www.berliner-stadtmission.de

Kleider- und Lebensmittelspenden
Haltbare Lebensmittel und überwiegend Männerkleidung in gedeckten Farben, die der Jahreszeit entsprechen, werden gerne genommen. Spenden kann man etwa bei der Berliner Stadtmission, am Hauptbahnhof in der Lehrter Straße 68. Kleiderspenden von bis zu fünf Säcken können hier von Montag bis Freitag von 8 bis 18 Uhr abgegeben werden. Größere Mengen nach Ab­sprache. Lebensmittel gehen direkt in die Küche der Notübernachtung, ebenfalls in der Lehrter Straße 68. Hier werden Spenden von Montag bis Sonntag von 12 bis 20 Uhr angenommen.


Text: Judith Jenner; Fotos: Verena Brüning


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