
Im Kiez
Neue Heimat
Es ist ein regnerischer Vormittag, als wir in Niederschönhausen ankommen. Die Sekretärin der Wohn- und Pflegeeinrichtung begleitet uns in die vierte Etage. Hier lebt Gisela Wille zusammen mit ihrem Mann Eberhard. Die 83-Jährige wartet bereits auf uns. Sie sitzt im Rollstuhl, hinter ihr bereiten einige Schwestern das Mittagessen für die Bewohner*innen vor. Gemeinsam setzen wir uns in eine ruhige Ecke am Ende des Flurs.
Geboren wurde Gisela Wille 1936 in Pankow. Ihr Vater war Straßenbahner und ihre Mutter Hausfrau. Dort, wo sich heute die Wohnsiedlung des Märkischen Viertels befindet, war damals nur Ackerland. Hier baute ihr Vater der Familie ein kleines Haus. Ihre Kindheit hat sie in guter Erinnerung, sie sei mit den Freund*innen aus jener Zeit immer in Kontakt geblieben. „Wir haben häufig telefoniert“, sagt sie. Doch inzwischen falle ihr das Telefonieren schwer. Ihre Sehkraft und ihr Erinnerungsvermögen haben gerade im letzten Jahr nachgelassen.

Gisela Wille lebt seit zweieinhalb Jahren im Elisabeth Diakoniewerk
Foto: Katrin Streicher
„Hierher zu kommen und hier zu leben ist immer ein großer Schritt, der ein Loslassen von dem Bekannten erfordert“, sagt Peter Molle, der Leiter des Elisabeth Diakoniewerks. „Aber zugleich ist der Umzug in ein neues Zuhause auch eine Erleichterung.“ Das Ziel ist es, den Bewohner*innen eine weitestgehende Selbstbestimmtheit zu ermöglichen. Gisela Wille bereut den Schritt zum Pflegewohnen nicht. Sie genießt es, weniger Verantwortung zu haben, sie sagt: „Ich blicke gern zurück. Aber ich merke auch, dass viel Last von mir gefallen ist.“
Nach der Schule machte Gisela Wille eine Ausbildung an der Handelsschule, brach diese aber ab, um eine Stelle als Schreibkraft in einer Holzfirma anzunehmen. Die bot Sicherheit – das war damals wichtiger als eine abgeschlossene Ausbildung. Mit 23 lernte sie ihren Mann Eberhard kennen. Sie verliebten sich und heirateten im Sommer 1960 kurz vor der Geburt ihrer Tochter Silvia. Vier Jahre später kam ihr Sohn Thomas zur Welt. Eberhard Wille arbeitete als Kranführer bei den Borsigwerken in Tegel und später im Vermessungsamt. Sie war mittlerweile als Sekretärin im Bezirksamt angestellt und kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt.

Das Elisabeth Diakoniewerk in der Pfarrer-Lenzel-Straße hat Wohn- und Pflegeangebote für verschiedene Lebenssituationen
Foto: Vonderlind/Archiv Stephanus-Stiftung
Die Familie hatte nie viel Geld, aber sparte für ihren großen Traum: ein eigenes Haus. 1978 wurde er wahr. Gisela Wille erzählt, dass ihr Mann handwerklich begabt war und viel selbst baute. „Verreist sind wir wenig. Unser schönster Urlaubsort war der Garten.“ Ihre Worte verraten, wie besonders dieses Haus für sie war und mit welcher Wehmut sie zurückblickt.
Ihr Mann wurde 1990 aus gesundheitlichen Gründen Frührentner. Fünf Jahre später, mit 59 Jahren, musste sie sich einer Hüftoperation unterziehen. Seitdem kann sie nicht mehr allein laufen. Vor sechs Jahren erlitt ihr Mann einen Schlaganfall und kam als Pflegefall aus dem Krankenhaus nach Hause. Sie versprach ihm damals: „Wir halten durch, bis es nicht mehr geht!“

Gisela Wille teilt sich ein Zimmer mit ihrem Mann Eberhard. Die beiden sind seit 60 Jahren zusammen
Foto: Katrin Streicher
Anfangs half die Tochter, schließlich unterstützte ein Pflegedienst die Willes. Das Mittagessen kochte die Rentnerin weiterhin selbst. Doch die Hüfte bereitete ihr immer wieder Probleme. Wenn sie im Krankenhaus operiert werden musste, war ihr Mann bereits für kürzere Aufenthalte im Elisabeth Diakoniewerk. „Wir wollten unser geliebtes Heim behalten – doch eines Tages wussten wir, dass es nicht mehr geht.“
Seit zweieinhalb Jahren leben die Willes nun dauerhaft hier – zusammen mit rund 120 Mitbewohner*innen. Die Einrichtung liegt in ruhiger Umgebung und bietet verschiedene Pflegeformen an, darunter Tages- und Kurzzeitpflege – oder eben Pflegewohnen. Es gibt verschiedene Bereiche, sie heißen hier „Lebenswelten“. „In welcher dieser Lebenswelten jemand lebt, hängt von den Fähigkeiten, Vorlieben und Bedürfnissen jedes Einzelnen ab“, erklärt Peter Molle. Gisela Wille und ihr Mann leben in der „Sonnenallee“. Hier wohnen diejenen, die nicht mehr mobil sind oder unter Demenz leiden. „Es dauerte eine Weile, bis wir uns eingewöhnt hatten“, erzählt Gisela Wille. „Bei mir ging es schneller, aber meinem Mann fehlt immer noch unser Haus.“
Die Zimmer sind mit allem Nötigen ausgestattet, etwa mit einem großen Einbauschrank im Flur und zwei Einzelbetten, an denen kleine ausfahrbare Tische befestigt sind. Den großen Flachbildfernseher an der Wand haben sich die Willes selbst mitgebracht. Auf der Kommode und im Regal stehen kleine Figuren und andere persönliche Gegenstände. An der Wand hängen Bilder: ein Foto ihres Enkels, ein von ihr gemaltes Bild mit vielen kleinen bunten Blumen und ein anderes, das sie bei einer Ausstellung hier im Haus gekauft hat. Es zeigt eine Frau auf einer Vespa: „Früher bin ich auch mal Motorroller gefahren“, erzählt sie freudig.

Auf den Regalen stehen persönliche Gegenstände des Ehepaars, darunter ein altes Foto der beiden in ihrem Garten
Foto: Katrin Streicher
Als sie 2017 einzog, konnte sie noch mit ihrem Rollator laufen. „Da habe ich anderen Bewohnern gerne geholfen“, erinnert sie sich. Besonders gern sei sie zum Bingo gegangen, habe die Konzerte im Haus besucht und gemalt. Das Haus bietet den Bewohner*innen viele Aktivitäten an: Es gibt Spiele, die das Gedächtnis trainieren, Kegelgruppen, Singkreise, verschiedene Ausstellungen und vieles mehr. Regelmäßig kommt ein mobiler Verkaufsstand ins Haus, einmal in der Woche gibt es ein Frühstücksbuffet, zu dem alle Bewohner*innen eingeladen sind. Kerstin Schmidt, die Sekretärin der Einrichtung, sagt: „Manche alte Menschen blühen regelrecht auf, wenn sie hier sind. Sie waren vorher oft allein und genießen nun die Gesellschaft.“
Inzwischen fällt Gisela Wille der Besuch beim Bingo schwer – selbst die großen Zahlen kann sie nicht mehr erkennen. Doch gelegentlich geht sie zu den Spielrunden; ihr Mann kann nicht mehr daran teilnehmen, freut sich aber, dass sie dabeibleibt. „Auch wenn ich vieles nicht mehr so kann, finde ich immer jemanden, der mir hilft – auch beim Spielen.“ Doch besonders gern ist die 83-Jährige draußen. Sie freut sich jetzt auf den Frühling, auf die Zeit unter dem schattigen Baum im Garten, wo sie mit ihrer Tochter sitzen und plaudern kann.
Text: Jasmin Hollatz; Fotos: Katrin Streicher, Foto Elisabeth Diakoniewerk: Vonderlind/Archiv Stephanus-Stiftung